»Nur mal kurz spielen, das habe ich doch jetzt im Griff!«

Carsten, trocken, über seine Sucht und heutige Abstinenz

Unter den Zuhörern ist auch Carsten (Name geändert), 29 Jahre, seit 950 Tagen aus der Klinik. Carsten spielte mehr als zehn Jahre lang intensiv am Computer. Jetzt zollt er den Eltern erst einmal Respekt: »Weil sie sich sorgen und sich kümmern. Weil sie ihre Kinder nicht aufgeben und hier und heute Rat suchen.« Aber auch, weil sie damit ihre Ratlosigkeit zugeben und durch ihren Besuch »das Problem offiziell machen«. Sie gestehen sich ein, dass sie nicht mehr weiterwissen, geben aber ihre Kinder nicht auf, sondern suchen professionellen Rat. Der erste Rat des Ex-Zockers klingt in den Ohren der Eltern jedoch erst einmal sehr verblüffend: »Wenn Sie sich zwischen Ihr Kind und den Rechner stellen, sind Sie nicht mehr Mutter und Vater, sondern ein Hindernis.« 


Carsten weiß, wovon er spricht, denn seine Mutter war ein solches Hindernis. Der Streit mit seiner Mutter eskalierte so, dass er mit 17 Jahren auszog. Mit »dem Kontrollwahn von Mutti« war damit Schluss. Mit der Computerspielsucht noch lange nicht. Carsten verteidigte mit dem Spiel allerdings auch etwas, was er bis dahin noch nicht erlebt hatte: »Das erste Mal, als ein gegnerischer Spieler fluchte, weil ich so verdammt gut war, weil ich besser war als er, das war eines der schönsten Gefühle, die ich jemals hatte.« Carsten testete viele Spiele, Spiele mit viel Pixelpower und auch ganz einfache. Er begann die Schule zu schwänzen und nach der Schule für einen Euro in der Stunde in einem Internetcafé zu zocken. Im Spiel war er schnell gut und erfolgreich, Gildenführer von 40 Leuten, die auf das hörten, was er sagte. Die Spiele boten ein einfaches Ranking, das zeigte, wie erfolgreich er war. Der Nachteil: »Wenn du zwei Tage nicht im Spiel warst, hatten dich 30 Leute überholt und du warst nicht mehr unter den 100 Top-Leuten.«


»Wenn du zwei Tage nicht im Spiel warst, hatten dich 30 Leute überholt und du warst nicht mehr unter den 100 Top-Leuten.«


Carsten ist inzwischen »trocken«, wie es bei Alkoholikern heißen würde, er hat das Suchtmittel aus seinem Leben verbannt. Bei ihm ist es halt der Rechner und nicht die Flasche. Carsten hatte die Pubertät längst hinter sich, als er sich gegen die Sucht entschied. Zu dieser Entscheidung gehörte nicht nur, »dass ich das nicht mehr so wollte, das Leben, das ich als Computersüchtiger führte«. Das hatte ihm schon ein paar Mal gedämmert. Was dann hinzukam, war die Erkenntnis: »Ich schaffe es nicht alleine, einen Ausweg zu finden. Ich brauche Hilfe.« Zu dieser Entscheidung und Erkenntnis hat ihm allerdings nicht seine Mutter verholfen, sondern sein bester Freund: »Der hat mich anderthalb Jahre bearbeitet.« Heute weiß Carsten: »Echtes Leben ist toller als jedes Spiel.« Sein Ziel ist, »ein ganz normales Leben zu führen«. Dazu gehört: »Einen Platz zum Leben zu haben, regelmäßig zu essen, Freund*innen zu haben, zu wissen, wo ich Hilfe bekomme, eine berufliche Perspektive zu haben.« Schrecklich normal, ein solches Leben, aber eben ein eigenes Leben, ein Leben, in dem er entscheiden kann, was er tut oder lässt. Inzwischen nimmt Carsten viel genauer wahr, wann er wieder Gefahr läuft, »Treibholz zu werden«. Er lebt bewusster und kriegt mit: »Was belastet mich? Gab es einen Konflikt? Was kommt auf mich zu?« 


Carsten kommt allerdings weiterhin zu einem monatlichen Beratungsgespräch, um die Erfolge der Therapie zu stabilisieren. Claudius Boy, Sozialarbeiter, führt das Gespräch mittels eines Bildes. Das Bild ist eine Ampel, die auf Rot, Gelb oder Grün stehen kann. »Wann steht die Ampel bei dir auf Rot?«, will der Sozialarbeiter von Carsten wissen. »Ich war anfangs zu optimistisch. Ich dachte erst, ich kann den Rechner noch nutzen, um Musik zu machen oder kurz etwas auf Wikipedia nachzuschlagen. Oder Serien zu gucken. Ich dachte, die Ampel auf Gelb zu stellen, reicht aus.« Doch das mit dem »ein bisschen Internet« ging schief, der Computer beschäftigte ihn wieder länger, als gut war. »Deshalb hab ich die Ampel inzwischen auf Rot geschaltet, wenn es um den Rechner geht.« 


Anfangs galt Internetsucht noch als exotisch. Inzwischen erkundigen sich Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen nicht mehr allein nach dem Konsum von Alkohol und Medikamenten, sondern auch nach anderen Süchten.


Carsten versuchte, den Computer kontrolliert zu nutzen. Irgendwann kam der Moment, in dem er dachte: »Nur mal kurz spielen, das habe ich doch jetzt im Griff!« Carsten hätte sich kaum stärker selbst täuschen können. Er lag im Bett und vibrierte vor Angst: »Geht jetzt alles wieder von vorne los?« Das Spiel sollte nur eine Stunde dauern, es dauerte aber acht. Die Haltlosigkeit war sofort wieder dagewesen, die Sehnsucht danach, sich wieder im Spiel zu verlieren. Carsten kannte das Gefühl nur zu gut und erkannte: »Das ist ein Rückfall! Das darf nicht passieren!« Der Rückfall »tat tierisch weh«, berichtet er heute. Der erneute Kontrollverlust »war eine riesige Enttäuschung«. Das erdrückende, vernichtende Gefühl: »Ich bin hilflos, ich habe keine Willenskraft.« 


So hilflos, wie er sich in dieser Situation fühlte, war Carsten schließlich aber nicht. In der Therapie hatte er diesen Moment besprochen. Er schrieb an seinen besten Freund eine SMS: »Ich hatte einen RÜCKFALL!« Aber er schrieb schon »hatte«. Carsten wirft eine Rettungsleine und zieht sich wieder ans Ufer. Am nächsten Morgen bringt er seinen Rechner zu seinem Freund, ein halbes Jahr später verschenkt er ihn ganz. Seither ist klar: »Ich werde nie kontrolliert Computer spielen können.« Darum lautet heute sein Ziel: Abstinenz. Deshalb hat er die Ampel für den Rechner auf Rot geschaltet. 


Carsten war schließlich auch zur Suchtbehandlung in einer Klinik. Der Grund dafür war zunächst jedoch gar nicht die Internetsucht, sondern seine Abhängigkeit von Alkohol und Cannabis. Eine Ärztin fragte ihn allerdings auch, ob und wie häufig er am Computer spielt. »Anfangs galt Internetsucht noch als exotisch«, erklärt Lost in Space-Leiter Schmid. »Inzwischen erkundigen sich Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen nicht mehr allein nach dem Konsum von Alkohol und Medikamenten, sondern auch nach anderen Süchten. Auch Kinderärzt*innen fragen nach, wenn Kinder psychisch auffällig sind.« 


»Kiffen ist auch auf Rot«, sagt Carsten. »Das habe ich in der Klinik gelernt.« Carsten weiß inzwischen, dass er aufpassen muss mit allem, was ihm großen Spaß macht. »Serien schauen war deshalb lange Zeit auf Knallorange. Kinofilme haben ein Ende, Serien aber häufig einen Cliffhanger. Du weißt nicht, wie es im nächsten Moment weitergeht und musst einfach die nächste Folge anschauen.« Carsten kennt inzwischen die Warnsignale, die Anzeichen dafür, dass ihm sein Leben aus dem Ruder zu laufen droht. Er beginnt, wieder Termine zu verpassen, vergisst, sich bei seinem Kumpel zu melden. Carsten nennt das, seinen »Scheiß-egal-Modus«. Enorm wichtig seien auch die regelmäßigen Treffen in der Selbsthilfegruppe: »Dadurch kann ich nicht vergessen, dass ich süchtig bin.«